Umgang der Koreaner mit dem Schiffsunglück der Fähre Sewol

Wie auch in den deutschen Medien oft zu sehen und zu hören war, ist am 16. April diesen Jahres die Fähre Sewol vor der koreanischen Küste gesunken, an Bord hauptsächlich Schüler einer Schule in Ansan (nur etwa 15km von meinem Wohnort entfernt), die auf dem Weg zu einem Schulausflug auf der Insel Jeju waren. Von den 476 Menschen an Bord konnten nur 174 gerettet werden, einige werden immer noch vermisst. Doch ich möchte nicht über das Unglück an sich berichten (darüber kann man sich auf diversen deutschen Nachrichtenseiten oder sogar bei Wikipedia informieren), sondern darüber, wie die koreanische Gesellschaft mit diesem Unglück umgeht.

Es herrscht quasi Staatstrauer. Am Tag nach dem Unglück übertrugen gleich mehrere Sender rund um die Uhr (sogar ohne Werbung) von der Unglücksstelle, bzw. der Insel Jindo dort in der Nähe. Manche Studenten hatten während der Vorlesungen die ganze Zeit Stöpsel im Ohr und starrten auf ihr Handy, dabei wurde sogar im Gegensatz zum normalen Alltag kaum gechattet. Und ich sah an diesem Tag keinen Menschen lachen. Ich hatte Koreaner noch nie so Nachrichten versessen gesehen. Normalerweise konzentrierte man sich nach einem Blick in die Zeitung oder auf den Bildschirm wieder auf sein eigenes Leben, doch an diesem Tag hatten alle nur die Fähre Sewol, die Opfer und deren Angehörige im Kopf.

Doch bald sollte die Stimmung der Trauer zu einer Stimmung der Wut umschwanken. Zuerst Wut auf den Kapitän, der unter den ersten Leuten war, die vom sinkenden Schiff geflohen waren und dann Wut auf die Regierung, die angeblich nicht genug tat, um die Vermissten zu finden und zu retten. Es tauchten Berichte, Fotos und Videos von der Unglücksstelle im Internet auf, die zeigen sollten, dass die Regierung viel weniger für die Rettung tat als in den Nachrichten behauptet. Und Videos vom Besuch der Präsidentin auf der Insel Jindo, wo sich die Angehörigen der Vermissten in Notunterkünften tummelten – im Fernsehen wurde dieser Besuch so dargestellt, als wolle die Präsidentin den verzweifelten Eltern beistehen und als seien diese dafür dankbar, im Internet hingehen sieht man, wie die Leute Präsidentin Park beschimpfen und diese den Ort schnell wieder verlässt.

Und dann gab es noch einen weiteren Punkt, der in der Gesellschaft zur Sprache kam. Wieso waren so viele Schüler in ihren Kabinen geblieben, anstatt an die Oberfläche zu gelangen, während das Schiff sank? Wie auch in den deutschen Medien gemeldet wurde, gab es die Anordnung des Kapitäns, in den Kabinen zu bleiben und auf Rettung zu warten. Und die meisten der Schüler hielten sich daran. Für Deutsche Leser vermutlich unvorstellbar. Wenn man sich in Lebensgefahr befindet, würde man doch versuchen, sich zu retten? Aber die koreanische Gesellschaft tickt anders. Wenn in Korea ein Mensch, der älter ist als man selbst oder einen höheren Posten innehat, etwas anordnet, tut man dies. Und damit der Ältere und der mit dem höheren Posten ein und dieselbe Person sind, gibt es in Korea auch nicht viele junge Leute in hohen Ämtern. Wenn der Jüngere den höheren Posten innehätte, wäre dies peinlich für den Älteren und das Alter spielt eine sehr wichtige Rolle in der Gesellschaft. So siezt man fast alle, die älter sind als man selbst, selbst wenn man sie anstatt von der Arbeit nur vom Sport kennt und jeden Freitag nach dem Training gemeinsam ein Bierchen trinkt.

Ich selbst hatte ausgerechnet genau einen Tag vor dem Schiffsunglück ein unschönes Erlebnis, das mich fast meine komplette Zukunft in Korea gekostet hätte – und das nur, weil ich eine Aufgabe nicht erledigen wollte. Dafür hatte ich einen guten und verständlichen Grund, doch den wollte ich nicht sagen und ich konnte mich nur dadurch retten, letztendlich doch tiefe Privatsphäre offen zu legen. Selbst wenn Koreaner behaupten, dass man doch wenigstens in lebensbedrohlichen Situationen nicht auf unkluge Anweisungen von oben hören solle: Dadurch, dass man bei dem kleinsten Vergehen schon üble Konsequenzen zu erwarten hat, macht man einfach das, was von oben verlangt wird. Wenn der Kapitän also sagt, man solle in den Kabinen bleiben, obwohl er selbst von Bord springt, dann bleibt man in den Kabinen. Erstrecht, wenn man selbst noch Schüler und dadurch viel jünger als der Kapitän ist.

Allerdings machen sich die Koreaner anscheinend trotz dieses Vorfalls keine Gedanken darüber, etwas an diesem blinden Gehorsam zu ändern. Stattdessen wird nur der Kapitän angeklagt, durch seine Anweisung für den Tod hunderter Menschen, hauptsächlich Schüler, verantwortlich zu sein. Doch nachdem auch die Regierung dies angeklagt hat, konzentriert man sich nun nicht mehr so sehr auf den Fehler des Kapitäns, sondern eher darauf, alles, was die Regierung tut, als heuchlerisch darzustellen. Schlau stellt sich die Regierung allerdings wirklich nicht an.

Beispielsweise gab es vor ein paar Tagen eine Totenfeier für die Opfer, an der natürlich auch Präsidentin Park Geun-hye teilnehmen musste. Angesichts der großen Anteilnahme in der Bevölkerung hätte es sich die Präsidentin nicht erlauben können, dort nicht aufzutauchen. Allerdings musste sie mit Beschimpfungen und Demonstrationen rechnen, denn die Regierung hatte sich in den letzten Tagen sehr unbeliebt gemacht. So gab es beispielsweise einen Marsch verzweifelter Eltern von der Insel Jindo in Richtung des blauen Hauses (Regierungssitz), doch dieser wurde schon nach ein paar Kilometern durch ein großes Polizeiaufgebot unterbunden. Wenn Präsidentin Park allerdings auf der Trauerfeier nur mit Anfeindungen zu rechnen hatte, wie sollte man dann ihre Anteilnahme positiv in den Medien darstellen? Wenigstens ein Foto oder eine kurze Filmsequenz, in der sie als Hoffnung für die Menschen dargestellt wurde, musste es doch geben.

Und ein Foto gab es schließlich tatsächlich: eine alte Frau hatte von der Präsidentin eine Rose erhalten und klammerte sich an ihre Schultern wie an einen Messias. Doch schon kurze Zeit nach der Veröffentlichung dieses Fotos durch sämtliche große Zeitungen und Fernsehsender tauchte im Internet die Frage auf: Wer ist diese Frau? Von den Angehörigen der Opfer kannte sie keiner. Und dann tauchte ein Video auf, das zeigte, wie die alte Frau nur ein paar Schritte hinter Präsidentin Park den Saal betrat – und diesen dann auch genauso schnell wie die Präsidentin wieder verließ. Und die Präsidentin selbst? Diese hatte anscheinend eigentlich vorgehabt, vor den aufgestellten Fotos der Opfer einen langsamen Trauermarsch zu vollführen, drehte aufgrund diverser Beschimpfungen allerdings schnell wieder um, gab der alten Frau die Rose und verschwand dann wieder. In den großen Medien erschien genau dieses eine Foto inklusive Bericht über die Anteilnahme der Präsidentin, im Internet häufen sich übelste Beschimpfungen der Präsidentin und der restlichen Regierung als Lügner.

Einige Zeit lang überlegte ich tatsächlich, ob in der Gesellschaft nun Wut oder Trauer vorherrschend war, im Moment ist es aber irgendwie beides. Sämtliche Schulausflüge für dieses Halbjahr wurden abgesagt und viele Feste und Veranstaltungen fielen aus oder wurden auf unbekannt verschoben. Ich selbst bin der Meinung, dass man so langsam wieder mit diversen Veranstaltungen beginnen könnte, denn irgendwann muss ja wieder Normalität einkehren und die Koreaner sind ein Volk, das aus gemeinsamen Veranstaltungen sehr viel Kraft schöpfen kann. Es gibt in der Gesellschaft ein starkes Gemeinschaftsgefühl und so bin ich der Meinung, dass man durch zu langes Ausfallenlassen jeglicher Veranstaltungen den Menschen die Möglichkeit nimmt, sich gegenseitig Halt geben zu können. Statt einer Absage der ganzen Veranstaltung wäre eine gemeinsame Schweigeminute zu Beginn o.ä. in meinen Augen die bessere Lösung. Aber die Koreaner sind anscheinend anderer Meinung. Hier hat man sich darauf geeinigt, dass man zu Beginn der Fußball-Weltmeisterschaft im Juni, wenn die Atmosphäre von allein wieder anheizt, so langsam mit den Veranstaltungen und Festen wieder beginnt. Zurzeit wird jeder schief angeguckt, der eine mir ähnliche Meinung vertritt und eigentlich jetzt schon gern wieder mit diversen Veranstaltungen beginnen würde.

Die Anteilnahme an dem Unglück sieht man auch bei Facebook oder Handy-Chat-Diensten, kurz: überall, wo man ein Profilfoto anlegen kann. Dieses zeigt momentan bei vielen Koreanern eine gelbe oder schwarze Schleife oder einen Spruch in schwarzer Schrift auf gelbem Grund, der an die Opfer des Schiffunglücks erinnert. Und gleichzeitig wird Facebook dazu genutzt, Nachrichten zu verbreiten, die man im Fernsehen so nicht zu sehen bekommt, wie beispielsweise die Aufklärung zur Entstehung des Rosenfotos der Präsidentin. Seit den Studentenprotesten im Winter hat sich das Bild des koreanischen Facebook stark geändert. Ich würde schon fast sagen, dass die Koreaner inzwischen mehr über Politik schreiben als die Deutschen.

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